Gysi meint ...

blättchen
Treptow-Köpenick

Ohne Eiferei

Unsere Sprache ist die Grundlage der menschlichen Verständigung. Sie macht uns wesentlich zu denkenden Wesen und entwickelt sich ständig. Sie spiegelt den Stand der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Denkens wider. So beschreibt ein sprachlicher Begriff wie etwa „die Wählscheibe“ etwas, was wohl in den nächsten Jahrzehnten Stück für Stück in Vergessenheit geraten wird. Sprache kann auch verletzen, ausgrenzen, im schlimmsten Fall wie im Nazi-Deutschland zum Werkzeug eines Menschheitsverbrechens werden. Deshalb sollten wir darauf achten, Menschen und Menschengruppen nicht durch von uns verwendete Begriffe zu verletzen. Sondern unseren Sprachgebrauch ändern und zum Beispiel eine Straße umbenennen, die einen Kolonialherren würdigt. Wir sollten unsere kulturelle Identität nicht auf die potentielle Verletzung anderer Menschen gründen. Da das, was und wie wir sprechen, ein Kernbestandteil unserer Kultur ist, deren Veränderung oft Jahre und Jahrzehnte braucht, sollten wir uns alle miteinander andererseits auch die nötige Zeit geben. Ich bin strikt dagegen, Bücher aus früheren Zeiten ahistorisch umzuschreiben, sondern stattdessen dafür, eine historische Einordnung einstmals verwendeter Begriffe als Anmerkungen hinzuzufügen. Nur so wird ersichtlich, welche Kämpfe geführt werden mussten, um heutige Standards zu erreichen.

Dies betrifft auch das Gendern - umso mehr, da es für die Beschreibung diverser geschlechtlicher Identitäten in Schrift- und gesprochener Sprache noch keine Lösung gibt, die sich harmonisch aus dem bisherigen Sprachgebrauch entwickelt hat. Eine Übersetzung in die Umgangssprache funktioniert nicht von heute auf morgen. Doch sie wird kommen, je mehr Menschen von sich aus gendern. Man kann da auf Karl Marx vertrauen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Auch ohne Eiferei.

Dieser Artikel stammt aus dem "Blättchen" vom Mai 2021. Die Zeitungen kann hier runtergeladen werden.

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